"Behauptung und Selbstdefinierung: Die Welt in Biel/Le Monde à Bienne"
Thomas Hirschhorn

Die Arbeit "Die Welt in Biel/Le monde à Bienne" ist ein wichtiger Bestandteil der "Robert Walser-Sculpture" und - als Künstler - kommt meine einzige Kompetenz über diese Arbeit zu schreiben - vom dabei Erfahrenen. Die Arbeit von Enrique Muñoz García war deshalb so wichtig, weil sie auf den harten Kern der "Robert Walser-Sculpture" - einer Arbeit im öffentlichen Raum - und somit aufs Eindeutigste trifft: 'Absolute Inklusion'.

Enrique Muñoz García habe ich dank Ingrid Wildi, einer Künstlerkollegin, die in Biel gearbeitet und gelebt hat, kennengelernt. Es ist eine schöne und fruchtbare Begegnung, denn Enrique Muñoz García - in Chile geboren und aufgewachsen - ist ein 'richtiger' Bieler! Er hat mir seine 2014 begonnene Arbeit "Die Welt in Biel/Le Monde à Bienne" gezeigt und für mich war sofort klar, eine Evidenz, dass diese Arbeit ein Teil der "Robert Walser-Sculpture" werden musste, es lag an mir, Enrique Muñoz García zu überzeugen, diese Arbeit in die "Robert Walser- Sculpture" zu integrieren und sie weiter zu entwickeln. Und ich bin sehr glücklich, dass er einverstanden war, dies zu tun.

Das Überzeugende an seiner Arbeit ist, dass die "Die Welt in Biel/Le Monde à Bienne" eine einfache und darum präzise Aesthetik besitzt, die Raum gibt - was entscheidend ist in der Kunst, damit Komplexität entsteht. Seine Arbeit besteht aus schwarz/weiss Portraits von Menschen, die einen direkt in die Augen schauen. Diese Aesthetik benutzt Enrique Muñoz García mit Konsequenz, er macht die Aufnahmen mit viel persönlichem Einsatz, da er selbst die Menschen oft auf der Strasse anspricht und fragt, ob sie sich porträtieren lassen wollen. "Die Welt in Biel/Le monde à Bienne" besitzt, dank seinem physischen und intellektuellen Engagement, eine formale Strenge und eine inhaltliche Klarheit; Die Arbeit ist 'Form', eine konkrete und wirkende Form. Die Portraits sind Zeugnis wirklicher Begegnungen - Enrique Muñoz García hat keine Angst vor Kontakt mit der Wirklichkeit - mit Menschen, die aus den verschiedensten Gründen in Biel sind, dort leben oder arbeiten. Das Konkrete ist, dass er diese Begegnungen provoziert, in dem er die Menschen nach ihrem Bezug zu Biel/Bienne befragt. Das Wirksame ist, dass die Menschen, durch ihr Einverständnis zu einem Portrait, sich bewusst werden Teil dieser Stadt zu sein. Das ist Form, das ist Kunst an der Arbeit "Die Welt in Biel/Le monde à Bienne". Dazu ist diese in der "Robert Walser-Sculpture" gezeigte Arbeit eine wundervolle Referenz und eine Anlehnung voller Grazie - weil nicht geplant oder ausgedacht - an das, was Robert Walser in seinem 'Tagebuch' "Jakob von Gunten" geschrieben hat: "Übrigens bin ich in einer allerdings ganz, ganz kleinen Weltstadt aufgewachsen". "Die Welt in Biel/Le monde à Bienne" ist für mich bewundernswert, da Enrique Muñoz García seine Arbeit als nicht-abgeschlossenes Projekt versteht, das heisst, die Arbeit schöpft sich immer wieder neu, erweitert sich und verdichtet sich, da er immer wieder neue Bieler und Bielerinnen portraitiert, dadurch deklariert sich diese Arbeit folgerichtig und glaubhaft als ein 'Work in Progress'. Die Arbeit wird - von den daran Beteiligten - gegenwärtig erfahren und ist gleichzeitig Erfahrung für die, die sich mit der Arbeit auseinandersetzen.

Mit praktischer Effizienz - die Enrique Muñoz García und seine Arbeit auszeichnet - hat er die Fotos auf Papier ausgedruckt und sie an der äusseren Holzwand der "Robert Walser-Sculpture", da wo sich Menschen begegnen, die auch nicht auf die Skulptur hinaufsteigen, aufgeklebt. Die Arbeit oder Teile davon konnten so, wenn notwendig, erneuert und auch mit neuen Portraits - die während der "Robert Walser-Sculpture" entstanden sind - ausgedehnt werden. Für mich ist elementar festzuhalten, dass Enrique Muñoz García sich mit Hingabe - die Hingabe eines tatsächlichen Autors - darum gekümmert hat, so strahlte seine Arbeit immer in neuer Energie auf dem Bahnhofplatz in Biel. Enrique Muñoz García hat zusätzlich zu den aufgeklebten Portraits eine Weiterentwicklung seiner Arbeit vorgeschlagen, so hat er unter dem gleichen Titel: "Die Welt in Biel/Le monde à Bienne" in der Skulptur einen Raum besetzt, in dem Video-Portraits zu sehen waren. Es sind dies kurze schwarz/weiss Video- Portraits von Bielerinnen und Bielern. In diesen Videos lässt Enrique Muñoz García die portraitierten Personen ihre Gründe, warum sie in Biel/Bienne sind, erklären. Auch diese Arbeit folgt der zwingenden und bestechenden Aesthetik der Photo-Serie, die Dauer der Videos wird dabei von den jeweils Portraitierten bestimmt: Beendet der/die Portraitierte seine/ihre Erklärung, endet das Video. Die Video-Arbeit "Die Welt in Biel/Le monde à Bienne" wird laufend durch neu dazu gekommene Gesichter und auch neue Wortmeldungen bereichert.

Das Politische - das Wahre - in der Arbeit von Enrique besteht in der Behauptung einerseits und andererseits in der Selbstdefinierung. Durch diese verschiedenen Gesichter, die einen auf Augenhöhe anschauen, wird der Behauptung onthologischer Gleicheit Form gegeben, es ist die Behauptung 'der oder die Andere' zu sein, die Behauptung, 'der Nachbar oder die Nachbarin' zu sein, die Behauptung 'der Nächste' oder 'die Nächste' zu sein; Kunst ist daran, dass Kunst - weil sie Kunst ist - jeden einschliessen kann. Anderererseits richten sich diese Gesichter an jenen/jene selbst, die sich fotografieren oder interviewen lassen, um sich in einer emanzipatorischen Geste in und mit Biel/Bienne zu engagieren, zu verorten, zu fixieren. Diese Selbstverortung ist wiederum eine Fixierung, ein 'Ja-sagen' zur Welt; Kunst daran ist, dass die Kunst - weil sie Kunst ist - uns zur Selbstdefinierung zwingt und wer sich selbst definiert, kann auch die Welt definieren.

Ich habe die Arbeit "die Welt in Biel/Le monde à Bienne" als eine autonome und verbindende, eine universelle und inklusive Setzung erfahren.

Thomas Hirschhorn, Aubervilliers, 2022

Enrique Muñoz García, The world in Biel/Bienne (2014 -)
Kathleen Bühler

The best way to prevent racism in oneself or others is to get to know as many strangers as possible personally. Immediately, a previously diffuse stranger is given an individual face and its own story. For human further education and the shaping of a humane policy this causes more than a well-intentioned campaign by some official body. This simple and at the same time wise insight is followed by the wonderful video-work-in-progress The World in Bienne by Enrique Muñoz García. Following the quote of the Biel writer Robert Walser ("By the way, I grew up in a very, very small cosmopolitan city"), he has been investigating the cultural and ethnic diversity in Biel since 2014, which impresses with 120 different languages and a population of about 55,000. While the artist initially simply wanted to represent all nationalities in his video cycle, he soon realized that it is the individual stories that interest him more and since the movement of people moving in and out does not stop, his work is never finished.

The video portraits are all structured in the same way: first the person gives his name, his country of origin and the year since he has been in Biel. Then the question is inserted: "Why did they come to Biel" and we hear a short extract from the lives of people from Chile, Ecuador, Congo, Turkey, Algeria, Nicaragua, Senegal, Japan, Spain, etc. These are stories of love and pain, traumatic expulsions, business re-establishments, family ties, and, again and again, stories of finding one's home in Biel, as a place of openness and diversity. Not that the latter would have been easy. Finding a new home has to do with a lot of work on oneself, with overcoming strangeness and the willingness to learn, both about oneself and about others.

Enrique Muñoz García captures this intimate insight, creating moments of deepest humanity. To do so, he deliberately uses simplicity: a fixed camera, a semi-close shot so that the person opposite appears life-size, a neutral background, black and white film. The intention is not to make colorful folkloric advertising films for exoticism, but to focus on what connects us all, what is human. No one needs to pretend to be the other, but the human dimension of all these experiences is what brings us closer together.

The recourse to black-and-white film also places the video in the noble tradition of documentary film, especially the Cinéma Vérité, which stands for special credibility and authenticity, and in which the long camera angles signal that the filmmaker hardly interferes with reality. As a means of contemporary art, the interview has gained increasing importance since the seventies. It plays with the literary, sociological, legal, or psychological techniques of questioning, confession, legacy, and reportage, and has conquered an important role within contemporary art as a means in the field of self-expression, witnessing, coming out, and in the process of understanding complex situations. All this plays a part when Enrique Muñoz García interviews his counterpart and lets him tell about his journey to Biel.

Kathleen Bühler, Curator Robert Walser Sculpture, Biel/Bienne, 2019



Enrique Muñoz García, Die Welt in Biel (2014 –)
Kathleen Bühler

Die beste Art, Rassismus bei sich oder anderen zu verhindern, ist, möglichst schnell viele fremde Menschen persönlich kennenzulernen. Sofort erhält eine vorher diffuse Unbekannte ein individuelles Gesicht und eine eigene Geschichte. Dies bewirkt für die menschliche Weiterbildung und die Prägung einer menschenwürdigen Politik mehr als eine gutgemeinte Kampagne von irgendeiner offiziellen Stelle. Dieser einfachen und zugleich klugen Einsicht folgt das wunderbare Video-work-in-progress Die Welt in Biel von Enrique Muñoz García. Dem Zitat des Bieler Schriftstellers Robert Walser folgend („Übrigens bin ich in einer ganz, ganz kleinen Weltstadt aufgewachsen“) untersucht er seit 2014 die kulturelle und ethnische Vielfalt in Biel, welche mit 120 unterschiedlichen Sprachen bei ca. 55'000 Einwohnern beeindruckt. Wollte der Künstler in seinem Videozyklus zunächst einfach alle Nationalitäten vertreten haben, merkte er schnell, dass es die individuellen Geschichten sind, welche ihn mehr interessieren und da die Bewegung von Hinzu- und Wegziehenden nicht aufhört, ist auch seine Arbeit nie abgeschlossen.

Die Videoporträts sind alle gleich aufgebaut: zuerst nennt die Person ihren Namen, ihr Herkunftsland und das Jahr, seit sie in Biel ist. Dann wird die Frage eingeblendet: „Wieso sind sie nach Biel gekommen?“ und wir hören einen kurzen Ausschnitt aus dem Lebensweg von Menschen aus Chile, Ecuador, Kongo, Türkei, Algerien, Nicaragua, Senegal, Japan, Spanien, etc. Es sind Geschichten der Liebe und des Schmerzes, traumatische Vertreibungen, geschäftliche Neusituierungen, familiäre Verflechtungen sowie immer wieder Geschichten des Heimatfindens in Biel, als einem Ort der Offenheit und Vielfalt. Nicht das letzteres einfach gewesen wäre. Eine neue Heimat finden hat mit viel Arbeit an sich selbst zu tun, mit dem Überwinden des Fremdseins und der Bereitschaft zu lernen, sowohl über sich wie über die anderen.

Enrique Muñoz García hält diesen intimen Einblick fest und schafft dadurch Moment tiefster Menschlichkeit. Dafür setzt er bewusst auf Einfachheit: eine fixe Kamera, eine halbnahe Einstellung, so dass das Gegenüber lebensgroß erscheint, ein neutraler Hintergrund, Schwarzweiss-Film. Es sollen keine bunten folkloristischen Werbefilmchen für Exotik werden, sondern der Blick auf das uns alle Verbindende, Menschliche gerichtet werden. Niemand hat es nötig, dem andern etwas vorzumachen, sondern die menschliche Dimension von allen diesen Erlebnissen ist das, was uns einander näherbringt.

Der Rückgriff auf Schwarzweiss-Film verortet das Video zudem in der noblen Tradition des Dokumentarfilmes, insbesondere des Cinéma Vérités, das für besondere Glaubwürdigkeit und Authentizität steht, und in der die langen Kameraeinstellungen signalisieren, dass der Filmemacher kaum in die Realität eingreift. Als Mittel der Gegenwartskunst gewinnt das Interview seit den Siebziger Jahren eine immer größere Bedeutung. Es spielt mit den literarischen, soziologischen, juristischen oder psychologischen Techniken des Befragens, des Geständnisses, des Vermächtnisses und der Reportage und hat sich innerhalb der Gegenwartskunst eine wichtige Rolle erobert als Mittel im Feld der Selbstdarstellung, der Zeugenschaft, des Sich-Outens und im Prozess des Verstehens von komplexen Situationen. Dies alles spielt mit, wenn Enrique Muñoz García seine Gegenüber befragt und sie von ihrem Weg nach Biel erzählen lässt.

Kathleen Bühler, Kuratorin Robert Walser Sculpture, Biel/Bienne, 2019



Enrique Muñoz García, Le monde à Bienne (2014 –)
Kathleen Bühler

La meilleure façon de prévenir le racisme chez soi-même ou chez les autres est de faire la connaissance de personnes étrangères aussi vite que possible. Dès les premiers instants, une personne auparavant inconnue se voit attribuer un visage et une histoire individuelle. Ceci impacte plus le développement des hommes et la visée d’une politique humaine qu’une campagne bien intentionnée émanant d’un quelconque organe officiel. Cette idée à la fois simple et intelligente est celle que suit le merveilleux projet vidéo work-in-progress Le monde à Bienne d’Enrique Muñoz García. Suivant la citation de l’écrivain Biennois Robert Walser « Du reste j`ai été élevé dans uns petite, toute petite capitale », il étudie depuis 2014 la diversité culturelle et ethnique de Bienne, qui impressionne avec quelques 120 langues différentes pour 55'000 habitants. L’artiste, qui avait d’abord pour but de représenter simplement toutes les nationalités dans son cycle vidéo, s’est rapidement rendu compte que c’étaient les histoires individuelles qui l’intéressaient plus et que, du fait du mouvement incessant des arrivées et des départs, son travail ne s’arrêtait également jamais.

Tous les portraits vidéo sont construits de la même manière : la personne dit d’abord son nom, son pays d’origine et l’année depuis laquelle elle est à Bienne. Alors apparaît la question « pourquoi êtes-vous venu/e à Bienne ? » et on entend un court extrait du parcours de vie de personnes venant du Chili, d’Équateur, du Congo, de Turquie, d’Algérie, du Nicaragua, du Sénégal, du Japon, d’Espagne, etc. Ce sont des histoires d’amour et de souffrance, d’expulsions traumatisantes, de relocalisations commerciales, de relations familiales et ce sont aussi souvent des récits qui parlent de trouver en Bienne sa patrie en tant que lieu d’ouverture et de diversité.

Enrique Muñoz García capture cet instant intime et crée ainsi un moment d’une profonde humanité. Pour cela, il mise volontairement sur la simplicité : une caméra fixe, un cadrage en plan rapproché afin que le sujet apparaisse à taille réelle, un fond neutre, un film noir et blanc. Les séquences ne doivent pas devenir des films colorés mettant en scène le folklore et l’exotisme, mais plutôt être un regard dirigé sur ce qu’il y a d’humain qui nous relie tous. Personne n’est là pour persuader l’autre de quoi que ce soit, mais c’est la dimension humaine de toutes ces expériences qui nous rapproche les uns des autres.

Le recours au film noir et blanc inscrit la vidéo dans la tradition du film documentaire, plus particulièrement du cinéma vérité, qui indique une grande crédibilité et une authenticité, et les longs temps de pose signalisent que le réalisateur n’intervient quasiment pas dans la réalité. En tant qu’instrument de l’art contemporain, l’interview gagne depuis les années septante une importance toujours plus grande. Elle joue avec les techniques littéraires, sociologiques, juridiques ou psychologiques de l’interrogatoire, de la confession, de la transmission d’un héritage et du reportage et a acquis dans l’art contemporain un important rôle en tant qu’outil de l’autoreprésentation, du témoignage, de l’expression de soi et dans le processus de compréhension de situations complexes. Tout cela entre en jeu lorsqu’Enrique Muñoz García questionne ses interlocuteurs et les laisse lui raconter leur chemin jusqu’à Bienne.

Kathleen Bühler, Curatrice Robert Walser Sculpture, Biel/Bienne, 2019